Christian Mittermeier
Restaurateur und Hotelier
geboren 1965
Loge „Zu den drei Türmen“
i.Or. Rothenburg-Dinkelsbühl
Die Kunst zu genießen
Genuss ist individuell. Für den einen ist es Musik von Verdi, für den anderen ein gutes Glas Wein, ein Rock-Konzert, ein gepflegtes Abendessen oder eine gute Zigarre. Im gleichen Maße, wie sich unsere Gesellschaft verändert, verändern sich auch die Ansprüche an den Genuss.
Während unsere älteren Brüder, die ihre Kindheit und Jugend in der Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt haben, sicher bestätigen können, dass jede Mahlzeit mit Fleisch etwas Besonderes war, kann man damit einen Jugendlichen von heute sicher nicht mehr vom Hocker reißen.
Einerseits schade, andererseits ist es immer noch möglich, trotz unserer Wohlstandsgesellschaft auch Genüsse zu entdecken, die nichts kosten. Nichts außer offenen Augen und einem offenen Herzen.
So unterschiedlich die Vorstellungen von Genuss sind, eins haben sie gemein: Genuss ist die Empfindung, die bei der Befriedigung eines materiellen oder geistigen Bedürfnisses auftritt. Der Grund für das individuelle Begreifen von Genuss ist ganz einfach, dass jeder Einzelne ganz individuelle Bedürfnisse hat. Mit Genuss schafft sich der Mensch einen Ausgleich zu seinem Alltag, er holt in Ruhe das nach, wozu er aus Mangel an Zeit oder Gelegenheit nicht kommt. Wem täglich langweilig ist, für den ist Nervenkitzel ein Genuss, wer viel um die Ohren hat, der genießt seine Ruhe.
In meinem Beruf, dem Bewirten von Gästen, geht es heute schon längst nicht mehr darum, nur jemandes Hunger zu stillen. Gäste erwarten ein gelungenes Zusammenspiel von Küche, Service und Ambiente. In einer sich rasant schnell verändernden Umwelt suchen Gäste nach Herzlichkeit, Freundlichkeit, Wärme und Sättigung. Mit ihren Sinnen hören, riechen, schmecken, sehen und fühlen empfinden sie einen harmonischen Besuch in einem guten Restaurant. Wohlige Empfindungen erfreuen sie, wenn an einem kalten Herbsttag drin in der warmen Stube eine knusprige Ente serviert wird, eine heiße Suppe langsam den Magen und dann den ganzen Körper wärmt. Dazu ein gutes Glas Wein und ein nettes Gespräch mit Freunden, das ist Genuss.
Essen ist Lust, Kochen ist Liebe, eine der besten menschlichen Erfahrungen, seit es das Herdfeuer gibt. Nicht umsonst wussten schon die alten Römer: in vino veritas – im Wein ist Wahrheit. Manche gehen weiter und sagen: in Grappa lutetia – im Schnaps ist Frohsinn.
Nahe Verwandte des Begriffs Genuss sind das Glück, die Freude und die Lust. Hedonisten erheben das Streben nach größtmöglicher Lust zu ihrem Lebensziel, zur Selbsterfüllung des Individuums. Zum Genießen braucht’s nicht viel – außer dass man es tut. Dass man für einen Moment die Zwänge des Alltags abschüttelt, seinen Geist befreit und sich am Schönen erfreut. Leicht gesagt – schwer getan.
Wieviel Genuss darf man sich denn überhaupt erlauben? Ohne ein schlechtes Gewissen zu kriegen und wieso bekommt man denn überhaupt eines? Warum bekennen sich die wenigsten Menschen dazu, gerne zu genießen? Weil in unserer Gesellschaft eine stark von christlicher Religion geprägte Tradition verankert ist, die Lust und Genuss als fleischlich oder weltlich bezeichnet und als Begehrlichkeiten ablehnt.
Wer sich bei der Festlegung des Begriffs „Genuss“ an starre Normen, Gesetze und überkommene Traditionen klammert, vielleicht sogar an Erlasse, ist kein freier Mensch. Er ist unfrei oder macht es sich einfach oder beides zusammen.
Als freie Männer sollten wir auch die Freiheit haben zu genießen. Viele große Staatsmänner, Dichter und Denker, Musiker und Schriftsteller – darunter nicht wenige Freimaurer – waren und sind Genießer. Churchill liebte seine Zigarren, Goethe seinen Wein, Helmut Kohl seinen Saumagen und Bill Clinton – auch seine Zigarren.
In bestimmten Bereichen tangiert oder überschreitet das Genießen gesellschaftliche oder sittliche Normen und es stellt sich hier die Frage der „Ethik des Genießens“. Kein vernünftiger Mensch wird auf die Idee kommen, beim Besuch in einer Nichtraucherwohnung seine Pfeife auszupacken oder Freude beim Verzehr geschützter Tierarten zu empfinden. Bedürfniserfüllung, Lustgewinn und Streben nach Genuss dürfen sich nicht zum Selbstzweck entwickeln, sondern es gilt, ganz im freimaurerischen Sinn, das rechte Maß zu finden.
Der Kant’sche Imperativ bringt es auf den Punkt: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde. Oder einfach gesagt: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Wer sich in seinem Denken und Handeln an dieses rechte Maß hält, wer sich selbst erlaubt zu genießen, der wird viele schöne Momente erleben, der wird Vorfreude haben auf den nächsten Genuss, der wird das Schöne suchen und finden. Der wird seinen Menschen eine Freude sein, weil er genießen kann.
Im übrigen ist mir Kunst, auch die freimaurerische Kunst, ein Genuss, denn Genuss ist die Reaktion auf die Begegnung mit dem Schönen. Und die Freimaurerei als solche ist mir ein Genuss, eine angenehme Empfindung, die bei der Befriedigung eines geistigen Bedürfnisses auftritt.