Roland Martin Hanke
Arzt

geboren 1954

Loge „Zur Wahrheit und Freundschaft“
i.Or. Fürth

Vorsitzender des Deutschen Freimaurermuseums e.V

Über die Dynamik einer ästhetischen Idee

Schönheit allein rettet die Welt“

Diese Fjodor Dostojewski zugeschriebene Feststellung mag alle die zu Widerspruch anregen, die die Lösung der anstehenden Aufgaben gesellschaftlicher, ökologischer und ökonomischer Natur überwiegend verstandorientierten Anstrengungen zutrauen.

Auch jene, die mit der Demonstration von Stärke die Welt zu verändern suchen, werden Dostojewskis Gedankengang nicht folgen wollen.

Schönheit – diesem passivsten Teil der Trias Weisheit (Intellekt), Stärke und Schönheit freimaurerischer Ideenwelt wird die geringste potenzielle Energie zugetraut. Die ästhetische Komponente einer Manifestation erfährt der nicht reflektierende Betrachter lediglich als ein sich selbst bedingendes Beiwerk anderer, bewusster Ursachen.

Der Umgang mit dem Begriff „Schönheit“ und mit ästhetischen Ideen ist problematisch. Anders als bei rationalen Wertvorstellungen entzieht sich die Beschreibung dessen, was „schön“ ist, einer eindeutigen sprachlichen und begrifflichen Beschreibung. Auch kann und wird die Behandlung des Umgangs mit Schönheit, Gleichklang und Ästhetik nie Aufgabe und Wirkungsfeld allein der Kunst- und Kulturschaffenden sein. Zu sehr entstehen aus den  Wechselwirkungen mit dem, was uns „wohl tut“, die Grundsicherheiten im Dasein jedes einzelnen.

Es sollen Mechanismen dargestellt werden, die dem Menschen die Gestaltung eines eutonischen Verhältnisses untereinander und zu der ihn umgebenden Schöpfung ermöglichen könnten. So muss dem Engagement um die Beachtung ästhetischen Denkens und Handelns in allen Bereichen menschlichen Lebens mehr Raum zu dessen Verwirklichung eingeräumt und mehr Respekt bei dessen Einforderung geschenkt werden.

Schönheit ist nicht messbar!

Schönheit, Harmonie, Zufriedenheit, letztlich jedes ästhetisches Wechselspiel der Sinne von Mensch und Kosmos, ist allein von der Wertung des individuellen Reflektionsvermögens abhängig. Trotz der Kriterien des „Goldenen Schnittes“ und der Farbenlehren verschiedener Autoren, trotz bioelektrischer Messmethoden und Erfahrungswerten lässt sich nicht vorherbestimmen, ob ein Objekt oder ein Zustand als „schön“ erfahren werden wird. Auch ist der Mensch heute immer weniger bereit, seine eigene Stellungnahme zu dem Erlebten zu äußern. Kritiker werden zitiert, Wertetabellen und Verkaufsstatistiken herangezogen und die Zahl der Besucher genannt, um ein Geschehen als wichtig oder unwichtig einzuordnen. Diese Unzulänglichkeit und Unmündigkeit zu überwinden gilt es, um ästhetischen Ideen Geltung und Raum zu verschaffen.

Das Erfahren der Ästhetik

Harmonie bezeichnet den Zusammenklang und die dabei stattfindende gegenseitige Verstärkung von Einzelkomponenten. Ob das Resultat als „schön“ anerkannt wird, hängt in jedem Augenblick der Betrachtung von der inneren Verfassung, d.h. der Art der Bereitschaft des Betrachters / Erlebers ab, sich mit dem Erlebten auseinander zu setzen. Vergleicht er die emotionalen Reaktionen eines auf ihn wirkenden Reizes mit den Werten seiner unbewussten, archetypisch angelegten Geborgenheitshierarchie, so wird er ihn als wohltuend oder schmerzlich einstufen.

Eine ästhetische Idee ist das bewusste Zusammenfügen einzelner Reize zu einem Gesamtwerk, das in seinem Zusammenklang intensiver wirkt, als die Einzelreize. Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Ästhetik ist schmerzhaft, sie folgt entweder dem Streben nach maximalem Wohlbefinden (wohl-weh), oder nach größtmöglicher Schmerzhaftigkeit. So stehen sich gegenüber die Sehnsucht nach dem Gleichklang mit der umgebenden Natur, der Gesellschaft oder dem Partner zum Zwecke des Einfügens in eine als richtig anerkannte Ordnung, und die bewusste Auflehnung, die masochistische Selbstkasteiung und das Widersprechen gleichsam einem „Schrei nach Aufmerksamkeit“.

Die bewusste Wahrnehmung des ästhetischen Zusammenspiels ist an die Sinne gebunden. Die emotionale Interpretation jedoch dessen, was wahrgenommen wurde, vollzieht sich auf der Ebene des Unbewussten, Sprachlosen, Symbolhaften und Archetypischen. Das Er-Leben kann nur durch das Da-Sein geschehen, bei dem die Empfindungen der ewigen Suche entstammen, sich selbst zu finden. Diese Suche ist ausschließlich mit Mitteln des Verstandes nicht zu bewältigen, vermag der Mensch mit diesem allein begrifflich, wertend zu denken.

Selbstfindung ist nur durch die Einbeziehung eines Erlebniszustandes möglich, in dem für den Augenblick und für den Erlebenden allein eine individuell gültige Interpretation des Erfahrenen möglich ist. Die unterschiedlichen Facetten persönlicher Schönheitsideale wetteifern um den „bestmöglichst zu erreichenden Zustand“ von Wohlbefinden, Glück, Zufriedenheit und der Freiheit von Leid.

Ziel ist das Einswerden von Ideal und gefundenem Zustand. Die Summe aller ästhetischen Ideen erreicht und erlebt zu haben würde bedeuten, keine weiteren, neuen Erfahrungen mehr machen zu können. Dies wäre der Einklang und das Einssein mit dem Universum. Der Anspruch künstlerischen Schaffens Der künstlerische Schaffensprozess ist Ausdruck des Ringens um eine Idee, die lange vor ihrer potenziellen Manifestation erahnt wird und die es sich als nachvollziehbares Beispiel darzustellen lohnt. Kunst ist ein kreativer Prozess. Kreativität ist stets das Merkmal alles dessen, was Lebendigkeit in sich trägt, sich zu vermehren versucht und zu neuen Formen entwickelt.

Künstlerisches Schaffen allein nur als Handwerk, nur als gut reproduziertes Abbild des sinnlich Wahrgenommenen zu verstehen, verweigert sich jeglicher Kreativität. Diese Auffassung wäre allenfalls von Interesse für spätere Betrachter, denen der persönliche Zugang zum Abgebildeten nicht mehr möglich ist. Oder für jene als Beweis des eigenen Vermögens, natürliche Schöpfung nachproduzieren zu können, da ihnen eigene Zugangssensitivität fehlt. Dies hieße aber auch, sich freiwillig dem kreativen Schöpfungsprozess zu verweigern. Das Vermögen der Kunstschaffenden liegt darin, potenzielle, sich abzeichnende Lösungswege auf Fragen der Gesellschaft und des einzelnen Individuums zu erahnen, zu interpretieren und aufzuzeigen. Somit ist Kunst gleichbedeutend einer stetigen Auseinandersetzung mit dem sich beständig Wandelnden, aus dem heraus Kultur entsteht. Kultur ist das sich fortentwickelnde Ergebnis bewusster Bemühungen, Erfahrungen vielfältiger, Strukturen facettenreicher, Erlebnisse reichhaltiger, Harmonien spannungsärmer und Ordnungen stabiler zu gestalten.

Das Modell eines ästhetischen Raumes

Ordnung ist mehr als ein reproduzierbarer, gleichsam mechanisch konstruierbarer Zustand. Sie umfasst holistisch alle erlebbaren Daseinsaspekte und komponiert sie in einer ausgewogenen, als „angenehm“ empfundenen, gerne wiederholten Beziehung zueinander.

Freimaurerei ist eine dieser Bemühungen, durch die bewusste Gestaltung einer nach Vollendung strebenden Ordnung im äußeren Leben eine innere Ordnung im Wesenskern des Menschen zu implizieren. Rituale und Zeremonien sind die stets unvollendet bleiben müssenden Versuche, ein ästhetisches Höchstmaß von Handlung und Erleben zu gestalten. Sie sind das bewusste Zusammenspiel von Bewegung, Ton und Licht, von Geruch und äußerem Ambiente. Das Ritual bedient sich der Symbolsprache des Unbewussten, um diesem einerseits gezielt Botschaften aus der als real erfahrenen Welt zu übermitteln, als auch andererseits die im Unbewussten gespeicherten Persönlichkeitsmerkmale ins Wachbewusstsein zu transformieren. Diese im Unbewussten verankerten komplexen Bewusstseinskerne entwickeln jeder für sich eine eigene Dynamik derart, dass sie Sinnesreize, die ihrer eigenen Abstimmung entsprechen, anziehen, verstärken, lagern und bei ausreichend vorhandener Impulskraft an das Wachbewusstsein abgeben.

Voraussetzung für den Eintritt einer wahrnehmbaren Wirkung ist der Erwartungshorizont des Teilnehmers. Einem Ritual nur beizuwohnen oder es gar zu erleben unterscheidet sich darin, dass ersteres nur als „schön“, „angenehm“ oder gegebenenfalls „befremdlich“ gewertet wird, während im zweiten Fall eine persönliche Dynamik entsteht, die erlebte Stimmung mit sich in die Welt hinauszunehmen und weiterleben zu lassen. Hier entwickelt sich ein multidimensionales Raum-Zeit-Empfinden, das über die objektive Wahrnehmung hinaus auch eine qualitative und emotionale Betrachtungsweise ermöglicht.

So führt der Bewusstseinsprozess eines Rituals zu einem subtilen, vielschichtigen und äußerst komplexen Erleben der uns umgebenden Natur hin. Die hierdurch wahrnehmbaren Einzeldynamiken von Wollen, Sehnsüchten, Freude und Leid in ihrer Zusammenschau wird den zukünftigen Handlungsvektor des Betrachters bestimmen. Jeglicher Raum-Zeit-Zustand wird aber stets ein filigranes Gewebe unzähliger Einzelideen, Einzelindividuen und Einzelkomponenten bleiben, – und somit auch zerbrechlich sein und der ununterbrochenen Pflege und Sorgfalt bedürfen.

Die Dynamik einer ästhetischen Idee

Rituale und Zeremonien sind künstlich geschaffene Welten, die ästhetischen Kriterien standhalten. Die in ihnen manifestierten Botschaften sind jedermann zugänglich, der bewusst an ihnen teilnimmt. Ist jegliches kreatives Schaffen, jedes Bauen, Malen, Texten und Vertonen denn etwas anderes, als die im Profanen stattgefundene Verstofflichung innerer Bilder? Sind diese nicht ebenfalls derart subtil, dass sie sich einer alleinigen logischen, verstandesmäßigen Beschreibung entziehen und daher in Symbolen und Gleichnissen weitergegeben werden müssen?

Sobald ein Betrachter bereit ist, sich der Frage zu öffnen, was denn noch für Inhalte einem Objekt zu entnehmen wären, befindet er sich auf dem besten Weg zu dessen Entschlüsselung! Die Dynamik einer ästhetischen Idee besteht demnach in dem Phänomen, dass Botschaften über die Zeiten und Kulturen transportiert und jeder Zeit wieder in ihrem Wissenskern entschlüsselt werden können. Sollten nicht aus diesem Blickwinkel die Entscheidungen der Politik, der Arbeitswelt und der Architektur betrachtet werden, um unser gegenwärtiges Handeln vor unseren Nachfahren vertreten zu können?

Der Auftrag

Das Kennzeichen jedes Lebendigen ist es, dass es unablässig kreativ ist. Dies scheint das Erbe des Großen Schöpfers zu sein, das die Natur sich fortentwickeln lässt. Ein Versiegen der Kreativität käme dem Stillstand und damit dem Tod gleich. Der Auftrag an uns lautet, sich der inneren Ordnung unseres Selbst, unserer Umgebung und der Natur bewusst zu werden. So werden wir in alle von uns verfügten Änderungen und Neuschöpfungen mit Sorgfalt Botschaften einzuweben verstehen, die unsere eigene Geisteshaltung widerspiegeln. Dies möge in dem Bewusstsein geschehen, unsere Anliegen vollkommen altruistisch weiterzugeben und in dem, was von unserem Andenken zurückbleibt, weiterwirken zu lassen.

Nicht der Mensch ist die Botschaft des Lebens, sondern seine Spuren, die er unablässig hinterlässt! Je häufiger er seinen Weg geht, umso deutlicher werden sie, damit ihnen gefolgt werden kann. Ihre Botschaften lassen sich in jedem Objekt wiederfinden, das mit der notwendigen Sorgfalt, mit Hingabe und aus der innewohnenden Vision seines Schöpfers geschaffen wurde.

Seien dies Gartenanlagen oder architektonische Bauten, seien es Bilder, Objekte, Installationen oder Texte, sei es ein Stück auf der Bühne oder das schlichte Gesteck des Ikebana in seiner Ausdrucksstärke: stets wird ein Zeugnis vom inneren Zustand des Erbauers transportiert, das dem Betrachter jetzt und in Zukunft berichten wird.