Antony Ransome
Sänger, Operntherapeut

geboren 1940
lebt in Rye, Australien

Loge „Roland zu den Alten Pflichten“
i.Or. Bremen

Die Zauberflöte als universelle Symbol-Oper
NotenMozarts und Schikaneders Meisterwerk ist Freimaurern und OpernliebhaberInnen sicherlich recht geläufig, auch denjenigen bekannt, die eher selten in die Oper gehen. Sie kennen es mindestens als Märchen über den jungen Prinz Tamino und seinem Freund, dem Vogelfänger

Papageno, die gemeinsam versuchen, die schöne Pamina für die Königin der Nacht von der Burg des Hohenpriesters Sarastro zu befreien. Trotzdem möchte ich, als einer, der die ursprünglichen Symbole der Menschheit erforscht, einige Überlegungen anbieten, die etwas fremd anmuten dürften, sich aber gerade an dem Märchenhaften des Stücks orientieren.

Hermann Hesse schrieb in seinem Steppenwolf-Traktat: „Das Drama bietet (oder böte) die größte Möglichkeit zur Darstellung des Ichs als einer Vielheit… In unserer modernen Welt gibt es Dichtungen, in denen hinter dem Schleier des Personen- und Charakterspiels, dem Autor wohl kaum ganz bewusst, eine Seelenvielfalt darzustellen versucht wird. Wer dies erkennen will, der muss sich entschließen, einmal die Figuren einer solchen Dichtung nicht als Einzelwesen anzusehen, sondern als Teile, als Seiten, als verschiedene Aspekte einer höheren Einheit (meinetwegen der Dichterseele).“

Ich möchte einladen, Tamino, Pamina, die Königin der Nacht, Sarastro und die anderen Figuren nicht nur als eigenständige Charaktere zu betrachten, sondern auch als Teile einer solchen Persönlichkeit, wie Hesse sie beschrieben hat, die auch die individuellen Persönlichkeiten der ZuhörerInnen sein könnten.

Die wunderschöne Musik, das mythische Ambiente und unsere emotionale Beteiligung an den dargestellten Schicksalen der Protagonisten führt uns zu einer Identifikation mit ihnen, die uns an Aspekte unserer eigenen Persönlichkeit erinnern. Sarastro spiegelt unser Gewissen wider (auch das freimaurerische) und appelliert nicht nur an unsere Vernunft, sondern auch an etwas Metaphysisches in uns, symbolisiert durch Licht und Sonne, was ich als Streben nach Ganzheit beschreiben könnte. Die Königin der Nacht symbolisiert unsere Beziehung zu unserer eigenen Mutter und die emotionale Macht, die sie immer noch auf den unbewussten Anteil unserer Persönlichkeit ausübt, auch wenn wir erwachsen sind. Dieses Schicksal haben wir alle gemeinsam, wir gehen nur unterschiedlich damit umTamino stellt den jungen Helden dar, der gezwungen wird, allerlei Prüfungen durchzumachen – wie jedes Kind, das sich in er Welt behaupten muss. Seine erste Prüfung, eine Begegnung mit der Urmutter als Riesenschlange, besteht er nicht! Er symbolisiert auch das zielstrebige „männliche“ Element in jeder Persönlichkeit, ausgeglichen am Schluss der Oper durch Pamina, die das „weibliche“, kooperative, altruistische Element darstellt. Jeder Mensch braucht beide Elemente, um im Leben zu bestehen. Pamina verkörpert auch unsere verborgensten Ängste, die Herausforderungen des Lebens nicht meistern zu können und drückt sie in ihrer 2.-Akt-Arie voll Todessehnsucht aus.

Die Liebe der beiden jungen Menschen zueinander und die Einheit ihres Agierens am Schluss spiegeln diese Yang/Yin-Dualität und die Notwendigkeit von deren Überwindung und Integrierung im Bewusstsein wider. Yang, Sonne, das Männliche und Yin, Mond, das Weibliche, wenn bewusst vereint, können uns zu einer Transformation und Entwicklung der eigenen Seele verhelfen. Dies ist eine Aussage der großen Initiationsszene, der Prüfungen durch Feuer und Wasser am Schluss der Oper. Papageno, der einstige Weggefährte des Helden Tamino, der diese Prüfungen nicht durchmachen möchte, erinnert uns durch sein Verhalten (er wünscht sich nur eine Papagena und zu Essen und zu Trinken) daran, dass unsere süßen Triebe und die anderen Instinkte auch ins Bewusstsein integriert werden müssen. Die Gestalt des Monostatos verkörpert die unbewusste Macht dieser Triebe.

Die enge Verflechtung der unterschiedlichen Charaktere als Bestandeile oder Aspekte einer Gesamtpersönlichkeit wird übrigens durch ihre enge Verwandtschaft oder Beziehung zueinander in der Handlung unterstrichen. Wir erfahren z.B., dass Pamina die Tochter von Sarastro und der Königin ist.

Eine unentbehrliche und symbolisch wichtige Rolle für die Handlung spielen die drei Knaben, drei Engelgestalten (je nach Produktion), die eine schützende und vermittelnde Tätigkeit ausüben. Sie führen Tamino und Papageno ihrem Ziel entgegen und retten Pamina und später Papageno von ihrer Verzweiflung, als beide sich das Leben nehmen wollen. Sie symbolisieren unsere Intuition, wenn diese uns vor voreiligen und schlecht überlegten Entscheidungen rettet. Alle drei zusammen scheinen mir auf ihre Weise wirklich Weisheit, Schönheit und Stärke zu verkörpern und in ihrer Musik eine beglükkende Transzendenz auszudrücken.

Mozarts Ouvertüre bereitet uns instrumental auf das ganze Geschehen vor, eine spannende Einleitung. Wir sind mit den berühmten ersten Akkorden, wo die Ziffer Drei eine wichtige Rolle spielt, sofort in der Freimaurerwelt. Die feingliedrige Fuge bietet uns einen Vorgeschmack auf das aufgeklärte und geordnete Leben in Sarastros (vergleiche Zarathustra) Reich. Nach einer Wiederholung der Akkorde folgt bald eine Durchführung, die die dunkle, aufgewühlte und verrenkte Welt des Unbewussten (und der Träume auch) trefflich darstellt.

Die Riesenschlange, die Tamino solche Schrecken bereitet, wird eingangs von den drei Damen, die der Königin dienen, getötet. Diese drei Gestalten, die nur im 1. Akt relativ stark differenziert sind, aber sonst verschleiert und etwas schemenhaft, versuchen, zuerst mit Erfolg, Tamino zu überzeugen, dass der Weg zur Reife nicht bei Sarastro liegt. Taminos Ziel sollte sein, die hilflose Pamina aus der Macht des angeblich bösen Sarastro zu befreien. Die Zauberflöte und das Glockenspiel, die Tamino und Papageno von den Damen überreicht bekommen, werden aber später sehr positiv eingesetzt werden können. Obwohl die Königin und ihre Assistentinnen versuchen, Tamino im nichterwachsenen Zustand zu halten, wo alles Unbekannte nur böse ist, geben sie ihm die Mittel, die er später im Dienst seiner Entwicklung brauchen kann. Zuerst aber ist er unfähig, seine Liebe auf einen Menschen zu richten, sondern lediglich auf ein Bild, das Bildnis von Pamina, das er von den drei Damen auch empfängt. Er ist von jeglicher Unabhängigkeit und erkennbaren, wahrhaftigen Empfindungen, wie er in seiner „Bildnis-Arie“ gesteht, weit entfernt.

Es herrscht eher Hilflosigkeit und später einseitiger, unschöpferischer Trotz: es fehlt ihm eine echte Pamina, wie uns, wenn wir uns mit ihm identifizieren, ein vermittelnder weiblicher Anteil aus dem eigene Unbewussten fehlt. Statt dessen werden unausgegorene Wünsche auf eine äußerliche Ikone in der Art der Prinzessin Diana projiziert, wie bei Tamino mit seinem Pamina-Bildnis. Und doch ist Bewegung in Sicht: mit den Worten „Und ewig wäre sie dann mein“ zeigt Tamino in seiner Arie, dass er doch nach wahrhaften Empfindungen sucht und stellvertretend für uns diese Elemente als permanenten Bestandteil der Gesamtpersönlichkeit erkennen möchte.

Das Treffen der beiden Trieb-Gestalten Monostatos und Papageno, die sich in den Gemächern von Sarastro gegenseitig erschrecken und verjagen, zeigt, dass solche Anteile nicht bereit sind, miteinander zu arbeiten, sondern sie wirken völlig autonom und insgeheim Monostatos, dem erschreckend viel Freiraum in Sarastros Reich gegeben wird, ähnlich wie triebhafte Regungen in uns sich durchaus ohne Hindernisse verbreiten können, verkörpert das, was die Königin Tamino schon geschildert hat, nämlich die Gefahren für Pamina in Sarastros Burg. Monostatos legt Pamina in Ketten: das weibliche Prinzip innerhalb der Gesamtpersönlichkeit ist noch nicht in der Lage, sich zu entfalten. Gleichzeitig kann man sich durch die äußerst sympathische Musik, die Mozart für Pamina komponiert hat, sehr leicht mit ihr identifizieren.

Papageno und Pamina lernen sich kennen. In einem wunderschönen Duett, in dem Papageno sozusagen stellvertretend für Tamino, der Pamina noch nicht getroffen hat, seine Gefühle beschreibt, werden die heilige Union von Yin und Yang  zusammenhängende gegenseitige Verständnis zwischen Menschen besungen: „Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an“.

Die drei Knaben empfehlen Tamino: „Sei standhaft, duldsam und verschwiegen“. Durchhaltevermögen und Stille für den Blick in sich selbst sind für jeden Reifeprozess notwendig, wie jeder Freimaurer weiß. Tamino will aber ungestüm in den Tempel der Weisheit hinein, um Pamina zu retten. Er stellt einen Menschen dar, der Kontakt mit der Welt der konstruktiven Gefühle und der Kreativität sucht. Noch ist Tamino aber von den Rachegedanken getrieben, die er von der Königin der Nacht übernommen hat. Der Sprecher des Sarastro warnt ihn, alles nicht so oberflächlich zu sehen, nicht alles zu glauben, was ihm die Königin oder die drei Damen erzählt haben. Die Szene hat eine ungewöhnliche Ernsthaftigkeit und Intensität.

Kurz bevor Tamino und Pamina sich endlich treffen können, erklärt Pamina dem angstvollen Papageno, wie wichtig es ist, im Sinne der Wahrheit zu handeln, sich nichts vorzutäuschen. Als Sarastro, durch Trompeten angekündigt, erscheint, deutet dieser milde Apostel der Vernunft an, dass das weibliche Prinzip der konstruktiven Gefühle (verkörpert durch Pamina) bei ihm bleiben muss, weg von der zerstörerischen Emotionalität der Königin, ihrer Mutter.

Die ähnlich mysteriöse Ernsthaftigkeit von Sarastros Bitte an Isis und Osiris, am Anfang des 2. Akts, dass Pamina und Tamino gemeinsam Weisheit erreichen sollen, unterstreicht unser Ziel einer Verschmelzung der männlichen und weiblichen Prinzipien in eine integrierte Persönlichkeit. Die Legende von Osiris, der trotz seiner Zerstückelung wieder ins Leben erweckt werden konnte, um mit Isis einen Sohn zu zeugen, passt in das Konzept einer fruchtbaren Transformation mit neuem, weiseren Anfang in innerer Einheit. Diese wird durch Tamino und Pamina nach ihren Prüfungen für uns verkörpert, mit symbolischer Unterstützung am Schluss durch Papageno und Papagena und ihre Nachkommen!

Eine vor kurzem erschienene Studie über die Ursprünge der Freimaurerei von Knight und Lomas verknüpft die Osiris-Legende mit einigen der wichtigsten Aspekte des ethischen freimaurerischen Gedankenguts, die die Richtschnur waren, nach der die frühesten Könige Ägyptens gelebt und regiert haben sollen.

Die Königin der Nacht (die für Mozart und Schikaneder auch die Dunkelheit des Aberglaubens darstellt gegenüber dem Licht von Sarastros freimaurerischer Humanität und Aufgeklärtheit), versucht in ihrer zweiten Arie Pamina zum Mord an ihrem Vater Sarastro zu bewegen. Der aber hegt in seinen heiligen Hallen keine Rachegedanken gegen die Königin, weil es sein symbolischer Zweck ist, einen solchen Persönlichkeitsanteil nicht zu verdrängen, sondern zu integrieren. Eine sofortige Integrierung scheint aber kaum möglich, da die Königin, Monostatos und die drei Damen am Ende der Oper mit großem Theaterdonner von der Erde geschluckt werden. Die zerstörerischen Emotionen und Triebe bleiben in den Menschen im Verborgenen erhalten, selbst wenn ihre Niederlage vernichtend aussieht.

Einer der Höhepunkte der ganzen Oper ist die ergreifende Arie von Pamina in g-moll, Mozarts tragischste Tonart, in der sie ihre Verzweiflung ausdrückt, dass Tamino sie meidet. Es ist aber eine Prüfung seiner Verschwiegenheit. Wir können uns mit ihrer Einsamkeit sehr gut identifizieren. Oft folgt ein seelischer Fortschritt einer tiefen Krise. Nachdem Papageno seine Papagena einmal sehen darf, entdecken wir wieder Pamina, die sich mit dem Dolch ihrer Mutter umbringen will. Sie wird davon nur durch die drei Knaben abgehalten, die ein Abbrechen der Suche nach Erkenntnis vermeiden wollen.  Beachtenswert ist nicht nur hier, wie genial Mozart das Fagott einsetzt. Die sanfte Heiterkeit der heiligen Knaben besiegt Paminas Verzweiflung. Die Macht ihrer Mutter über sie ist gebrochen.

In der darauf folgenden Prüfungsszene singen die zwei Geharnischten: „Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut, ist würdig und wird eingeweiht“. Pamina selbst übernimmt die Initiative als bisher fehlender Teil der sich entwickelnden Persönlichkeit, nämlich der empfindsame, kreative Teil, den wir in uns oft suchen. Ihr größter Dienst ist es, Tamino durch die Feuer- und Wasserprüfungen zu leiten: „Ich selbsten führ dich, die Liebe leitet mich“. Erst danach kann die integrierte, ausgerundete Gesamtpersönlichkeit, in der die Hauptteile sich geeinigt haben, im Licht der Vernunft und Reife stehen.